Hier liegt Würze in der Luft. Wer die Pforte zum Maggi-Werk in Singen (Hohentwiel) passiert, kann schon erschnuppern, was hier tonnenweise produziert wird. Ein paar Schritte weiter, neben dem Maggi-Museum, heißt eine historische Litfaßsäule den Besuch mit einem Fünfzigerjahremotiv willkommen: Eine Frau nutzt die ikonische, eckige Flasche mit langem Hals und gelb-rotem Etikett, um die Suppe zu würzen. Entworfen hat die Flasche, die bis heute fast identisch aussieht, der Schweizer Firmengründer Julius Maggi im Jahr 1887, um seine Weltneuheit abzufüllen: eine Flüssigwürze, die als preiswerter Ersatz für Fleischextrakt Suppen und andere Speisen verfeinern kann. Seit 1897 ist der Maggi-Stammsitz in Singen nahe dem Bodensee. Hier werden jährlich mehrere Tausend Tonnen „Maggi Würze“ abgefüllt – und außerdem mehr als 300 weitere Nassfertig- und Trockenprodukte von Dosenravioli über Brühwürfel bis hin zu abgepackten Suppen, Soßen und Brühen.
Das Akzente-Team, bestehend aus Reporter und Fotograf, ist aber nicht hier, um die würzige Luft zu schnuppern. Das Maggi-Werk steht seit Jahren für ambitionierten Arbeitsschutz. Wie das klappt, erklärt Jochen Lingk bei einem Rundgang. Er ist seit 27 Jahren beim Nestlé-Konzern, dem Maggi angehört, seit 2012 kümmert er sich in Singen als Safety, Health & Environment (SHE) & Compliance Manager um Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz. „Wichtig war das Thema Arbeitsschutz hier schon immer“, erinnert sich der ehemalige Produktionsleiter. „Aber vor 20 Jahren hörte man ab und zu noch lapidare Sprüche wie: ‚Wo gehobelt wird, fallen Späne.‘ Diese Denkweise hat sich geändert.“ Heute werde die Überzeugung, dass es nichts Wichtigeres als die Gesundheit gebe, von praktisch allen Maggi-Beschäftigten im Arbeitsalltag gelebt. „Dafür haben wir viel getan, auch mithilfe der BGN“, sagt der Arbeitsschutzexperte. „Lärmminderungsmaßnahmen an einer Würzeabfülllinie, Messungen zu Ganzkörperschwingungen an einer Sortieranlage, Maschinensicherheitstraining oder Schulungen zu Rückengesundheit: Die BGN-Vertreter unterstützen uns immer wieder mit ihrem Know-how und bringen Erfahrungen aus anderen Unternehmen ein.“
Für mehr Verkehrssicherheit: Ob unter freiem Himmel zwischen den Werkshallen oder ...
... in geschlossenen Räumen - im Maggi-Werk sind Fuß- und Fahrwege klar getrennt.
Getrennte Wege für mehr Sicherheit
Unterwegs zwischen den Hallen für Mischung, Produktion, Abfüllung, Verpackung und Logistik fällt auf, dass die Geh- und Fahrwege durch hüfthohe Betonbarrieren getrennt sind. „Diese Abgrenzungen sind relativ neu und haben leider einen tragischen Hintergrund“, erklärt Jochen Lingk. Auslöser für die verbesserte Verkehrssicherheit auf dem Firmengelände war ein schwerer Unfall in einem europäischen Werk des Nestlé-Konzerns. „Eine Person wurde dort von einem Lastwagen erfasst. Direkt im Anschluss haben auch wir die Trennung der Fuß- und Fahrwege verbessert, ein Leitsystem für Lkw eingeführt und die Geschwindigkeit im Werk auf maximal zehn Stundenkilometer reduziert, um solchen Situationen vorzubeugen.“
Was wo wann an den einzelnen Arbeitsplätzen im Maggi-Werk zu beachten ist, erläutern Sicherheitskarten wie die, die Fertigungsgruppenleiter Jürgen Frank hier präsentiert.
Die Hinweise sind übersichtlich portioniert und anschaulich bebildert, das erleichtert allen Beschäftigten, auch kompliziertere Anlagen sicher und unfallfrei zu bedienen.
In der Verpackungshalle angekommen, erwartet uns Fertigungsgruppenleiter Jürgen Frank an einer Beutelanlage. „Die Maschine kann bis zu sechs Komponenten zufügen, beispielsweise Gemüse, Fleischklößchen, Spiralnudeln, Brühmasse und Maggi-Fix-Produkte“, erklärt er. Vier Takte pro Sekunde schaffe diese Verpackungsmaschine, das macht 14.400 Suppenpäckchen pro Stunde. Vor unseren Augen werden jeweils 19 Beutel Fleischklößchensuppe in einen Karton verpackt, der dann verleimt wird. Dafür erhitzt die Beutelanlage eimerweise Leimgranulat, bis es flüssig wird. „Die Hitze an diesem Arbeitsplatz ist ein spezielles Unfallrisiko, das jeder kennen und beachten muss“, sagt Jürgen Frank, „das gilt auch bei der Reinigung und Instandsetzung der Maschine.“ Ohne Sicherheitshandschuhe darf hier keiner ran, auch eine Anstoßkappe ist Pflicht, um Kopfverletzungen vorzubeugen.
Ein Koffer, viele Komponenten
Das alles und noch viel mehr findet sich in dem individualisierten Koffer mit persönlicher Schutzausrüstung (PSA), den bei Maggi jede und jeder Beschäftigte im Produktions- und Logistikbereich erhält. Jürgen Franks Exemplar liegt in einem dafür bestimmten Regal direkt am Arbeitsplatz, gut sortiert und jederzeit ohne Umwege zugänglich. „Wer bei Maggi anfängt, erhält neben der passenden Arbeitskleidung auch seinen PSA-Koffer mit einer Grundausstattung: Sicherheitsschuhe, Stoßkappe, Gehörschutz, Schutzhandschuhe und Standard-Sicherheitsbrille“, erklärt Jochen Lingk. „Dazu kommen je nach Arbeitsplatz und Gefahrenpotenzial noch individuelle Inhalte. Zum Beispiel eine dicht schließende Sicherheitsbrille und ein Chemikalienschutzhandschuh für spezielle Reinigungstätigkeiten oder eine FFP1-Maske zum Schutz vor bestimmten Lebensmittelpartikeln.“ Geht etwas aus dem PSA-Koffer kaputt oder verschleißt, sind die Beschäftigten selbst dafür verantwortlich, sich Ersatz zu besorgen. „Das klappt inzwischen gut“, freut sich der Arbeitsschützer. „Alle haben verinnerlicht, dass diese Schutzausrüstung ihrer eigenen Sicherheit und Gesundheit dient.“
Coaches, Paten und Einarbeitung nach Plan
Eine Etage tiefer treffen wir an der „Wümi9“, der neunten Produktionslinie im Würzmischbereich, Vanessa Walentin. Sie ist eine von vier internen Coaches, die sich seit Ende 2023 ausschließlich um sichere und störungsfreie Abläufe im Maggi-Werk kümmern. „Als Coachin muss ich im Blick haben, was in Sachen Arbeitsschutz verbessert werden kann, weise neue Beschäftigte ein, erstelle Trainingspläne, wer wann an welcher Anlage eingelernt werden muss, und führe auch Schulungen durch“, umreißt die ehemalige Vorarbeiterin und Gruppensprecherin ihre neue Aufgabe. Gleich wird sie sich um einen Mitarbeiter kümmern, der neu an der „Wümi9“ eingesetzt wird. Die Anlage ist ein Alleskönner, der nach Bedarf fünf verschiedene Formate befüllt: Glasbehälter, kleine und große Blechdosen, Papier- sowie Wickelrumpfdosen. Zwei Personen bedienen die Maschine und müssen bei einem Formatwechsel auch in der Lage sein, sämtliche Einstellungen anzupassen – ohne die Hilfe eines Schlossers. „Bis man alle Handgriffe beherrscht, alle Formate einmal durchgelaufen sind, gängige Probleme aufgetreten und gelöst sind – das dauert“, sagt Vanessa Walentin, „die Einarbeitung ist hier komplex und herausfordernd.“
Onboarding häppchenweise
Damit Neulinge an komplizierteren Maschinen nicht überfordert sind, setzt man bei Maggi auf einen ausgeklügelten Onboarding-Prozess, der die Einarbeitung in verdaubare Häppchen portioniert. „Wir haben diesen Arbeitsplatz in sechs Sicherheitsbereiche unterteilt“, erklärt Jochen Lingk. „Neulinge lernen nach und nach, was wo zu beachten ist, und kommen nur in den Bereichen zum Einsatz, für die sie bereits geschult wurden.“ So werden aus einem dicken, womöglich verwirrenden Handbuch mit Sicherheitshinweisen, Übersichtstafeln und technischen Erläuterungen einzelne, überschaubare Kapitel – leichter zu verstehen, leichter anzuwenden. „Außerdem weisen wir jedem Neuling für die erste Zeit am Arbeitsplatz einen erfahrenen Paten zu“, erklärt Vanessa Walentin. „Als Coachin habe ich ein Auge darauf, dass die Einarbeitung gemäß den betrieblichen Vorgaben abläuft.“ Die relevanten Schritte für Qualität, Arbeitssicherheit und den Umgang mit neuen Kolleginnen und Kollegen sind klar definiert und in Formblättern festgeschrieben: Welche Voraussetzungen sind zum Einstieg unverzichtbar, was hat eine Woche Zeit und welche Kenntnisse müssen spätestens nach einem Monat vorhanden sein? „Das Onboarding geschieht Schritt für Schritt nach einem klaren Plan“, sagt Vanessa Walentin. „So wird niemand von zu vielen Informationen überfordert.“
Als eine von vier internen Coaches kümmert sich Vanessa Walentin um sichere und störungsfreie Abläufe im Maggi-Werk – hier an der „Wümi9“, der neunten Produktionslinie im Würzmischbereich.
Für eine zielgerichtete Einarbeitung wurde dieser Arbeitsplatz in sechs Sicherheitsbereiche unterteilt. Neulinge lernen nach und nach, was wo zu beachten ist, und kommen nur in den Bereichen zum Einsatz, für die sie bereits geschult wurden.
Das Schichtrisiko lässt sich vorhersagen
Vor Unaufmerksamkeiten und Unfällen sollen aber nicht nur Neulinge am Arbeitsplatz geschützt werden. „Wir halten es für wichtig, dass sich jeder zu Beginn der Schicht kurz ein paar Fragen stellt, um vorausblickend zu beurteilen, ob außergewöhnliche Risiken zu erwarten sind“, erklärt Jochen Lingk. „Wenn das so ist, können frühzeitig Maßnahmen abgeleitet werden. Gleichzeitig ist durch ein Ampelsystem für Vorgesetzte und Kollegen sichtbar, wo aktuell eine erhöhte Risikolage besteht.“
Im Arbeitsalltag bedeutet das: Innerhalb der ersten Stunde nach Schichtbeginn müssen die Mitarbeitenden auf der am „Linienboard“ ausgehängten Schichtvorhersagetafel zehn kurze Fragen mit einem grünen oder roten Vermerk beantworten: „Sind neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an diesem Arbeitsplatz eingeplant < 12 Wochen Erfahrung?“, „Gibt es Abweichungen hinsichtlich Umgebungshygiene?“ oder „Gibt es an meiner Linie Abweichungen zum Einstellstandard?“ Je nachdem, ob und in welchem Bereich eine rote Notiz gemacht wurde, wird die entsprechende „Schichtrisikovorhersage-Ampel“ in Grün, Gelb oder – bei hohen Risiken – Rot an die Pinnwand gehängt. Wird beispielsweise die Frage „Fehlt eine kritische Sicherheitsvorrichtung oder ist defekt?“ mit Rot bejaht, muss auch die Schichtrisikovorhersage-Ampel direkt auf Rot gestellt werden – die Produktionslinie wird dann sofort gestoppt. „Erst wenn durch eine gefahrmindernde Maßnahme das Problem behoben wurde“, betont Jochen Lingk, „darf an der Anlage weitergearbeitet werden.“
Loben nicht vergessen
Das Onboarding-Konzept, die Schichtrisikovorhersage, der PSA-Koffer und viele weitere Maßnahmen für mehr Arbeitsschutz zeigen Wirkung. „Gerade im Hinblick auf schwere Unfälle gibt es eine positive Entwicklung, auch die Anzahl der Erste-Hilfe-Unfälle hat abgenommen“, freut sich Arbeitsschutzexperte Jochen Lingk. „Dazu haben auch die 300 internen Coachings zum Thema Arbeitssicherheit im ersten Quartal 2024 beigetragen.“
Dass sich das umfangreiche Engagement in Sachen Arbeitsschutz für Maggi – wie für jedes andere Unternehmen auch – in vielfacher Weise auszahlt, davon ist auch Werksleiter Dominik Paintner überzeugt. „Werke wie unseres, die eine sehr geringe Unfallrate haben, erzielen meist auch in anderen Bereichen sehr gute Ergebnisse: Die Produktion läuft stabil, die Produktivität und Qualität sind hoch, wir haben wenig ungeplante Stillstände“, stellt er fest. „Das ist auch nicht erstaunlich, da es bei allen Themen darum geht, gute Standards zu haben, die eingehalten und fortlaufend weiterentwickelt werden.“ Wer also den Arbeitsschutz für seine Beschäftigten und Dienstleister verbessere, stärke insgesamt seine Wettbewerbsfähigkeit – denn gesunde und motivierte Beschäftigte bringen bessere Leistungen, sind weniger abwesend und tragen zu einem positiven Betriebsklima bei. Aber unabhängig davon müsse es für jedes Unternehmen selbstverständlich sein, dass es sich dafür einsetzt, dass die Mitarbeitenden physisch und psychisch gesund bleiben. „Wenn es zwischen der Produktivität und dem Arbeitsschutz mal gegenläufige Interessen geben sollte“, stellt Dominik Paintner klar, „dann hat bei Maggi der Arbeitsschutz höchste Priorität.“
Die acht „Lebensretter“-Regeln im Maggi-Werk:
- STOPP DIE MASCHINE vor jedem Eingriff
- Mach LOTO (Lockout/Tagout) vor jeder Demontage
- Halte die FAHRSICHERHEITSREGELN ein
- Arbeite in UMSCHLOSSENEN RÄUMEN nur nach Freigabe
- Schütze dich gegen Absturz bei ARBEITEN IN HÖHE
- Halte Abstand zu BEWEGLICHEN OBJEKTEN
- Arbeite bei gefährlichen Arbeiten nur mit GÜLTIGEM ERLAUBNISSCHEIN
- Trage deine PERSÖNLICHE SCHUTZAUSRÜSTUNG
Steckbrief: Maggi-Werk Singen (Nestlé Deutschland AG)
Sitz: Singen/Hohentwiel (Baden-Württemberg)
Beschäftigte: rund 600 (circa 550 Vollzeitstellen)
Jahresproduktion: insgesamt rund 60.000 Tonnen in den Bereichen Nassfertigprodukte (Ravioli, Suppen etc.), Trockenprodukte (z. B. Bouillons, Suppen, Soßen, Brühwürfel, Universalwürzmittel) und Würze
Arbeitsmotto: „Ich gebe acht – gesund & sicher“