
„Mit dem Exoskelett fühle ich mich riesig“
Die junge Bäckerin Anna Struckmann ist seit einem Wegeunfall vor acht Jahren querschnittsgelähmt. Heute kann sie auch aufgrund der Leistungen der BGN wieder ihrem Beruf im elterlichen Betrieb nachgehen, ihre Hobbys pflegen und regelmäßig mit einem Exoskelett trainieren – alles Kraftanstrengungen der unterschiedlichsten Art.
Anna Struckmann hat eine positive und dynamische Ausstrahlung. Die 27-Jährige arbeitet als Bäckerin und Konditorin im elterlichen Café-Restaurant „Zur Schleuse“, das direkt am Dortmund-Ems-Kanal auf der Grenze von Spelle-Venhaus zu Lünne liegt. In ihrer Freizeit spielt sie Basketball, fährt Handbike, kümmert sich um ihre beiden Pferde und steuert eine Kutsche. Hört sich eigentlich ganz normal an – wenn da nicht eine entscheidende Sache wäre, die diese junge Frau von anderen Gleichaltrigen unterscheidet: Anna Struckmann ist seit einem Verkehrsunfall querschnittsgelähmt und sitzt im Rollstuhl – bis auf die insgesamt drei Stunden in der Woche, in denen sie sich in einem wohnortnahen ambulanten Rehazentrum ihr Exoskelett umschnallt und Schritt für Schritt losmarschiert. „Das ist schon ein seltsames Gefühl. Als Rollstuhlfahrerin fühlt man sich immer kleiner als alle anderen und auf einmal steht man aufrecht und hat das Gefühl, ein Riese zu sein“, erklärt die junge Frau. „Die Perspektive ist komplett anders.“ Doch vom Unfall bis zum Stehen und Laufen mithilfe eines Exoskeletts war es ein weiter und alles andere als einfacher Weg.

Zweimal in der Woche trainiere ich mit dem Exoskelett. Gerät, Training und viele andere Leistungen finanziert mir die BGN.
Ein Verkehrsunfall ändert einfach alles
„Die ersten drei Jahre nach dem Unfall waren wirklich hart, voller Selbstzweifel, Hoffnungen und Rückschläge“, beschreibt Anna Struckmann ihre damalige Verfassung. Nachvollziehbar, wenn man bedenkt, wie einschneidend der Unfall im Februar 2017 ihr Leben veränderte. Sie stieg frühmorgens in ihr Auto, um zu ihrer Ausbildungsstelle als Konditorin zu fahren. Es war kalt, die Straßen glatt und sie verlor in einer lang gezogenen Linkskurve die Kontrolle über das Fahrzeug. Ihr Wagen überschlug sich und landete auf einem Acker. „Ich war eingeklemmt und dachte, das war’s jetzt, ich werde hier erfrieren und sterben." Ein Wagen mit zwei jungen Leuten, die in einer Disco arbeiteten und Feierabend hatten, stoppte. Die beiden halfen ihr und alarmierten den Rettungsdienst.
„Sie werden nie wieder laufen können“
„Bereits am folgenden Tag eröffnete mir der zuständige Arzt im Krankenhaus in Meppen sehr direkt und nüchtern, dass ich nie mehr laufen können würde und jetzt querschnittsgelähmt sei“, erinnert sie sich. „Das war natürlich ein Schock, aber ich wollte mich von Anfang nicht hängen lassen.“
Nach ein paar Tagen wird sie in das Querschnittszentrum des BG Klinikums Hamburg verlegt, wo ein Reha-Manager der BGN Kontakt mit ihr aufnimmt. Er wird sie während ihrer langen und anstrengenden stationären Behandlung und Rehabilitationszeit begleiten, unterstützen und ihr die unterschiedlichen Hilfsangebote der BGN aufzeigen.

„Backen ist einfach mein Ding", erklärt die junge Frau. Aufgeben war nie eine Option.

Fertige Kuchen und Torten fährt die junge Bäckerin auf dem Schoß ins Kühlhaus.
Neben der medizinischen Behandlung stellten sich in dieser Zeit auch andere existenzielle Fragen für die junge Frau: Kann ich überhaupt in meinem Beruf weiterarbeiten? Wo will ich leben? Wer steht mir im Alltag bei? „Am Anfang hatte ich kaum Hoffnung, weiter Bäckerin sein zu können, aber da ich auf keinen Fall fürs Büro umgeschult werden wollte, war die Backstube mein erklärtes Ziel“, so die willensstarke Frau. „Dort wollte ich wieder hin, denn Backen ist einfach mein Ding.“
Behandlung und Reha im BG Klinikum Hamburg
Ein langes halbes Jahr wird sie in Hamburg behandelt und erzählt von dem einen oder anderen Krankenhauskoller, den sie während dieser Zeit hatte, und dass sie oft nur noch nach Hause wollte. Sie sei aber wirklich zutiefst dankbar, dort im Querschnittszentrum behandelt worden zu sein. Eine bessere medizinische Versorgung gebe es wohl kaum, ist Anna Struckmann sicher. „Es ist tatsächlich Glück im Unglück, wenn ein solcher Unfall als Arbeitsunfall anerkannt wird, man die Berufsgenossenschaft an seiner Seite weiß und in solch einer Klinik versorgt wird.“
Das Angebot der BGN, während dieser Zeit den Pkw-Führerschein mit einem Handgasbediengerät zu machen, nahm sie genauso gern an wie die Hippotherapie – eine besondere Art des therapeutischen Reitens. „Ich bin vor meinem Unfall geritten, da hat mich diese Therapie natürlich sofort angesprochen“, erklärt die 27-Jährige. Auf Dauer sei ihr das Gehen im Schritttempo allerdings zu langsam und damit zu langweilig gewesen. „Also hatten mein Opa – selbst passionierter Kutscher – und meine Mutter die Idee, ich solle doch den Kutschenführerschein machen.“ Gesagt, getan. Die BGN bewilligte drei Schnuppermodule, heute besitzt Anna Struckmann eine behindertengerecht umgebaute Kutsche, zwei eigene Pferde und ist mehrfach in der Woche im Reitstall. „Natürlich brauche ich manchmal Hilfe, aber alle dort kennen mich und sind sofort da, wenn ich mal allein nicht weiterkomme.“
„Im Schadensfall sorgen wir für bestmögliche Rehabilitation und helfen den Betroffenen mit allen geeigneten Mitteln, ihre Gesundheit und Arbeitskraft wiederherzustellen. Zudem leisten wir finanzielle Entschädigungen. Im Rahmen des individuellen Reha-Managements konnten in diesem Fall gemeinsam mit unserer hoch motivierten Versicherten angemessene Lösungen erarbeitet werden.“
Vielfältige Leistungen der BGN
Während Anna Struckmann noch im Krankenhaus war, wurde auf BGN-Kosten zu Hause ihr Badezimmer umgebaut und an ihre Bedürfnisse angepasst. Es folgten viele weitere Umbauten; technische Hilfs- und Arbeitsmittel wurden der jungen Frau mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 Prozent in den kommenden Jahren bewilligt (Beispiele dafür siehe Infokasten). Besonders wichtig war dabei die Anpassung der Backstube, in der sie heute täglich für zwei Stunden ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Backen, nachgeht. Auf Standardlösungen von der Stange kann man hier nicht zurückgreifen. Ob Backofen oder höhenverstellbarer Arbeitstisch: Alles muss gut durchdacht, vieles extra angefertigt werden.

Die Backstube wurde aufwendig umgebaut und an meine Bedürfnisse angepasst.
Um höher liegende Dinge zu erreichen, benutzt die Bäckerin einen Liftrollstuhl. Die Torte transportiert sie auf dem Schoß in den Kühlraum, der glücklicherweise keine Schwelle hat und so problemlos von ihr befahren werden kann. „Manchmal vergesse ich, dass ich im Rollstuhl sitze und nie wieder aus eigenem Antrieb laufen werde. Zum Beispiel, wenn ich am Tisch sitze, meinen Rollstuhl nicht sehe und einfach mal eben aufstehen will“, erklärt sie lächelnd und ohne erkennbaren Groll. Sie hat ihr Schicksal angenommen und ist froh, dass sie dieses mit ihrem Partner Kevin teilen kann. Den hat sie nämlich während ihres Trainings mit dem Exoskelett kennengelernt. Der junge Mann ist ebenfalls querschnittsgelähmt und das Paar wohnt mittlerweile zusammen. „Einerseits wäre es natürlich besser, mit einem nicht behinderten Mann zusammenzuleben“, schmunzelt die 27-Jährige, „der könnte mir bei vielen Dingen besser helfen. Andererseits versteht mein Freund mich so gut wie niemand sonst und kommt gut damit zurecht, wenn es mir mal schlecht geht und ich meine Ruhe brauche – genauso wie er übrigens. Das ist unschätzbar wertvoll.“
Trainieren mit dem Exoskelett
Acht Jahre nach dem Unfall führt Bäckerin Anna Struckmann heute ein fast normales Leben mit Beruf, aktiv gestalteter Freizeit und einer liebevollen Partnerschaft. Mit ihrem Partner Kevin verbindet sie eine Gemeinsamkeit, die wohl einmalig ist. Beide fahren zweimal an jeweils unterschiedlichen Tagen pro Woche in das Physiozentrum Physio-Fit Dijkhuizen in Lingen, um sich dort die für sie aufgeladenen und bereitstehenden Exoskelette anzuziehen. Mit deren Unterstützung können sie selbstständig aufstehen, laufen und sogar Treppen steigen. Klar, das müsse man trainieren und es koste anfangs viel Kraft und auch Mut, sagt die junge Frau, die Vorteile dieses Trainings seien aber immens. „Ich habe insgesamt eine bessere Muskelspannung, mehr Kondition und Kraft, meine Gelenke werden bewegt und gestärkt und die inneren Organe dürfen sich mal wieder normal ausbreiten“, erklärte die Bäckerin und fährt lächelnd fort: „Na ja, dem Kreislauf und meinem Darm tut das natürlich auch gut, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Es ist tatsächlich Glück im Unglück, wenn ein solcher Unfall als Arbeitsunfall anerkannt wird und man die Berufsgenossenschaft an seiner Seite weiß.
Hilfen von der BGN
Die BGN hat unter anderem folgende Leistungen beziehungsweise Hilfsmittel bezahlt oder bezuschusst:
- die kompletten stationären und ambulanten Behandlungs- und Rehamaßnahmen
- das gesamte Reha-Management
- die Anschaffung mehrerer Rollstühle mit unterschiedlichen Funktionen für den Alltags- und Freizeitbereich sowie für spezielle berufliche Anforderungen
- einen Zuschuss zum Erwerb eines Pkw und die Übernahme der Kosten für behinderungsbedingten Umbau
- den Pkw-Führerschein für das Fahren mit Handgasbediengerät
- den Kutschenführerschein und den Umbau der Pferdekutsche
- berufliche Qualifizierungsmaßnahmen
- verschiedene Umbaumaßnahmen zu Hause und am Arbeitsplatz
- verschiedene medizinische Hilfsmittel für den Alltag
- Leihgebühr für das Exoskelett der Firma ReWalk und Kosten für die therapeutische Begleitung durch speziell geschultes Personal
Die gesamten Ausgaben für das Heilverfahren, Hilfsmittel, berufliche und soziale Rehamaßnahmen, Wohnungshilfe sowie Leistungen für den Familienbetrieb belaufen sich bislang auf etwas mehr als eine Million Euro.